Tuschemalerei von Lei Zhang


„Vergiss Sicherheit. Lebe, wo du fürchtest zu leben.
Zerstöre deinen Ruf. Sei berüchtigt.“

Dschalal ad-Din Muhammad Rumi

 

Begegnung

Als ich 2013 jemanden traf, der seitdem willens ist, mich in der tibetischen Geistesschulung zu unterweisen, wurde mir schnell klar, dieses Training wird sich hauptsächlich darum drehen, mich den tiefsten und verborgensten Ängsten zu stellen.
Ich hatte die Bedeutung dieses Aspektes zwar schon zuvor in den daoistischen Lehren, in den Kampfkünsten und in der chinesischen Medizin erkennen können. Die ganze Tragweite und auch die vielen und aus heutiger Sicht eindeutigen Hinweise in den antiken Quellen, konnte ich nur erahnen.
Ich hoffte zwar in den letzten Jahren immer mal wieder, dass ich damit irgendwann „fertig“ sei, oder sich das Potenzial dieser Energie erschöpfe, heute weiß ich, das hört nicht auf.
Furchtlosigkeit bedeutet nicht frei zu sein von Angst, sondern frei zu sein mit Angst. Oder anders ausgedrückt, es ist ein Loslassen von der Angst vor der Angst. Die Angst verliert ihren Schrecken. Sie ist pure, rohe Energie, in ihrem Wesen nicht anders als Freude.

Der Höllenhund oder die Angst vor der Angst

In der griechischen Mythologie ist Zerberus, der dreiköpfige Höllenhund ein Symbol für die Angst vor der Angst. Er bewacht den Eingang zur Unterwelt, dem Reich der Toten. Hier fließt der Lethe, der Fluss des Vergessens, der den Verstorbenen von den Erinnerungen an altes Leid befreit und eine Existenz auf der Insel der Seligen (Elysion) ermöglicht.

„So heißt es:
der höchste Mensch ist frei vom Ich; der geistige Mensch ist frei von Werken; der berufene Heilige ist frei vom Namen.“
Zhuangzi – Das wahre Buch vom südlichen Blütenland, Kap. 1

Was hier vergessen wird, ist das Ich. Das Ich zu vergessen, bedeutet als erstes, dem Höllenhund Zeberus und somit der Angst zu begegnen. Das ist der erste und wichtigste Schritt des spirituellen Pfades, der geistigen Entwicklung. Das ist eine, vielleicht sogar die wichtigste Verbindung der verschiedenen mystischen Traditionen der Welt Das Ich ist aus Angst gemacht und der Zwilling der Angst ist Begierde. Aus diesen beiden Grundmotivationen entsteht das Leiden des Menschen.

Das Ich oder Angst und Begierde

„Der Grund, warum ich große Übel erfahre, ist,
daß ich ein Ich habe.
Wenn ich kein Ich habe,
welches Übel gibt es dann noch?“
Laozi – Dao De Jing, Kap. 13

Die Erscheinung des Ich ist eine Manifestation der tiefsten menschlichen Energien und somit der Wasser-Feuer-Achse. Das Wasser beherbergt das Jing 精, die Essenz oder den Funken des Lebens, der in Deiner Ahnenreihe vom Anbeginn der Zeit bis zu Dir weitergetragen wurde. Das Jing ist in den Nieren, als Deine Grundenergie oder Dein energetisches Potenzial gespeichert. Die Ahnenreihe und diese existenzielle Energie des Jing gehen in Resonanz mit Angst, als tiefster menschlicher Emotion.
Dem gegenüber steht das Herz im Feuer-Element, das Shen 神, das Bewusstsein, speichert. Das Herz ist der Kaiser und das Feuer entspricht dem Überschuss und der Fülle des Sommers. Das mit dem Körper identifizierte Bewusstsein ist bedürftig, will etwas, weil es glaubt nicht genug zu sein.
Das erwachte Herz ist frei von Begierden. Daher drehen sich die daoistischen und teils auch die antiken medizinischen Schriften um das Loslassen der Begierde.

Wasser-Feuer-Achse

Shen 神, das Bewusstsein kann furchtlos in der Tiefe des Wasser verwurzelt oder mit der Angst und dem Körper identifiziert sein.

Das, was Du bist und das, was Du glaubst zu sein

In der chinesischen Tradition unterscheiden wir zwischen Shen 神 und Yuan Shen 元神. Shen ist der kleine Geist, der aus Angst und Begierde gemacht ist und glaubt, ein separates Individuum zu sein. Yuan Shen ist der ursprüngliche Geist, der jedes Phänomen ermöglicht, aber keines braucht, um zu sein. Yuan Shen ermöglicht auch das Phänomen eines scheinbar getrennten Individuums.
Shen, der kleine Geist oder das, was Du als Ich erlebst, ist ausschließlich eine Ansammlung von Energien und Geschichten. Die Energie heißt entweder Angst und/oder Begierde und der Hauptdarsteller der Geschichten heißt immer „Ich“. Der ursprüngliche Geist, ist wie der Hintergrund oder die Leinwand, auf der all die Energien und Geschichten stattfinden, selbst aber davon unberührt bleibt.

„…der Urgeist ist jenseits der polaren Unterschiede. Hier ist der Ort, von wo Himmel und Erde ihr Dasein ableiten. Wenn die Lernenden es verstehen, den Urgeist zu erfassen, so überwinden sie die polaren Gegensätze von Licht und Dunkel…“
Geheimnis der goldenen Blüte
Das Buch vom Bewusstsein und Leben, Kap. 2

Stirb, bevor du stirbst

Ein Ich ist immer gefangen in den polaren Unterschieden, da es sich als getrennt von allem anderen erfährt und somit kann es zwar nach Einheit streben, sie aber nie erlangen. Wenn Du Dich endlich traust dem Höllenhund in die Augen zuschauen, Deiner Angst zu begegnen und mit der Energie verweilen kannst ohne reflexhaft irgendetwas tun zu müssen oder in den analytischen und bewertenden Verstand zu flüchten, kannst Du einfach spürend präsent bleiben. Dann erkennst Du, dass das, was Du für ein separates Ich hältst nichts weiter als eine Konditionierung, eine Wahrnehmungsgewohnheit ist.
Die Konditionierung loszulassen ist der Weg der Furchtlosigkeit und auf diesem Weg wird gestorben. Das ist für das Ich keine schöne Erfahrung und hat so gar nichts Angenehmes an sich, weil alles, was wir sonst so gut vor uns selbst verstecken an die Oberfläche kommt. Echte Transformationsarbeit bedeutet letztendlich immer Sterben, der Tod des Alten ist die Geburt des Neuen.

„Und solang du das nicht hast,
Dieses: Stirb und werde!
Bist du nur ein trüber Gast
Auf der dunklen Erde.“
Johann Wolfgang von Goethe – Selige Sehnsucht

Das bedeutet ganz praktisch, dass Du den kleinen Geist und all die Energien und Geschichten, mit all seinen Neurosen und Projektionen erkennst. Dabei geht es vor allem um die Geschichten und Energien, vor den Du sonst flüchtest, die Du mit Deinen Süchten zu kompensieren versuchst oder einfach immer nur bei anderen siehst.
Alles Anhaften und Greifen hält Dich in den Projektionen des kleinen Geistes gefangen. Alles, was Du wahrnehmen kannst, unterliegt dem Wandel von Yin und Yang. Wahrnehmen ist stets ein Kontrasterleben und erscheint im Bewusstsein. 

Bist Du in der Welt oder ist die Welt in Dir?

Ein schönes Beispiel für die Funktionsweise des kleinen Geistes ist Narziss, der sich in sein eigens Spiegelbild verliebte, ohne zu erkennen, dass er sich selbst sah. Der kleine Geist, das Ich oder das Ego, verliebt sich in seine Projektionen und auch wenn dieses Anhaften schmerzhaft wird, hält er lieber daran fest, als sich Täuschung einzugestehen. So wie Narziss alle Liebe zurückwies und sich mit trotzigem Stolz an seinem Spiegelbild ergötzte.

Einheit

„Ich kann kein Ding sehen, es sei mir denn gleich; noch kann ich ein Ding erkennen, es sei mir denn gleich.“
Meister Eckehart
Deutsche Predigten und Traktate, Kap. 24

In einer Version der Geschichte fiel ein Blatt ins Wasser und die entstandenen Wellen trübten sein Spiegelbild. Das verkraftete er nicht und starb. In einer weiteren Version stürzt Narziss ins Wasser und ertrank. Das ist ein Sinnbild für das Anhaften des kleinen Geistes an seine Illusionen bis zum Untergang.
Die Projektion, die wir als vermeintlich solide äußere Welt erleben, ist eben ein Spiegelbild des kleinen Geistes. Die Welt, in der ein vermeintlich getrenntes Ich lebt, ist aus Angst gemacht.

„Frei von Begierde, erkennt man das Geheimste.
Im Wunsch gefangen, sieht man nur die äußeren Umrisse.
Das Geheimste und die Erscheinungsformen
entspringen aus der selben Quelle.“
Laozi – Dao De Jing – Kap. 1

Spiegelprinzip

„Erkenne Dich selbst!“
Inschrift am Apollotempel von Delphi

Das erwachte Herz

Jenseits der Begierde liegt die Quelle. Diese Quelle oder der ursprüngliche Geist, der jede Angst und Begierde ermöglicht, aber selbst frei von beidem ist, ist unser wahres Wesen. Der kleine Geist wird dem Energiezentrum (Dantian) im Kopf zugeordnet. Der ursprüngliche Geist ist das Herz, das frei ist von Begierden und dem Feuer-Element sowie dem Sommer entsprechend mit Freude etwas gibt, sich verschenkt. Es ist das erwachte Herz, das in der tibetischen Tradition Bodhicitta heißt.
Relatives Bodhicitta ist ein Bewusstsein, das sich zum Wohle aller Wesen in Liebe (Maitri) und Mitgefühl (Karuna) übt. Furchtlosigkeit ist Mitgefühl. Es braucht Mut mitfühlend die Welt und die Menschen zu lieben. Es braucht schon Mut, sich immer wieder daran zu erinnern und es erneut anzugehen – Tag für Tag.
Absolutes Bodhicitta ist der Geist, der in sich ruht jenseits allem Begrifflichem und Dualistischen, der alles Seiende ermöglicht, aber selbst nichts braucht, um zu sein. Es ist das, was Du wirklich bist. Das erwachte und furchtlose Herz bringt die vier unermesslichen Geisteshaltungen in die Welt – Liebe (Maitri), Mitgefühl (Karuna), Freude (Mudita) und Gleichmut (Upeksha). Um Dein natürliches Wesen und somit diese vier unermesslichen Qualitäten, als gelebte Erfahrung zum Ausdruck zu bringen, kannst Du einfach der Angst als Wegweiser folgen. Du kannst ihr begegnen und mit ihr Freundschaft schließen. Das ist alles und es ist so herausfordernd wie einfach. So wie unser wahres Wesen so selbstverständlich, gewöhnlich und nah ist, das wir es ständig übersehen.

„Deine Aufgabe ist nicht die Liebe zu suchen, sondern nur all die Hindernisse in dir zu suchen und zu finden, die du dagegen aufgebaut hast.“
Dschalal ad-Din Muhammad Rumi

Die Wurzel der Angst

Um das Potenzial des erwachten Herzens und der vier unermesslichen Geisteshaltungen Liebe, Freude, Mitgefühl und Gleichmut freizusetzen, können wir direkt an der Wurzel (Ben) der Angst und der aus ihr hervorgehenden Hindernisse ansetzen. Denn alle anderen Erscheinungsformen der Angst sind nur weitere Aspekte (Biao) dieser Wurzel.
Die Wurzel der Angst ist die Überzeugung ein separates Individuum sein, dass ein Körper hat oder ist. Die Überzeugung „Ich bin dieser Körper“ ist die Wurzel der Angst und diese Überzeugung geht einher mit einem bestimmten Maß an Energie, welches dem Yin-Yang-Prinzip folgend, sich in vier Aspekten ausdrückt:

  1. Yin im Yin: Die Angst zu sterben

  2. Yin im Yang: Die Angst zu leben

  3. Yang im Yin: Der Wunsch zu sterben

  4. Yang im Yang: Der Wunsch zu leben

Die Geschichte, die Deinen Namen trägt, ist beeinflusst von diesen vier Energien, solange die Identifikation mit der Geschichte „Ich bin dieser Körper“ aktiv ist. Da Begierden oder Wünsche letztendlich nur das Greifen des Ego sind, das aus der Angst resultiert, ist der Kern des Trainings die Begegnung mit Angst. Du kannst diese vier Grundenergien untersuchen und aufrichtig hinschauen, wo und wie sie Dein Leben beeinflusst haben oder noch immer beeinflussen. Mit jeder Geschichte, die Du als solche erkennst und mit jeder Energie, die Du freisetzt, erkennst Du mehr und mehr, dass Du nirgends hinzugehen brauchst und nichts tun musst, um zu sein, was Du bist.

Wenn Du mit mir tiefer gehen willst

Wenn Du Dich angesprochen fühlst und den Mut hast, die Freiheit, Dein wahres Wesen zu erforschen und als gelebte Erfahrung in die Welt zu bringen, freue ich mich, mit Dir bei einem unsere Trainings gemeinsam tiefer zu gehen.

Zurückkehren zum Ursprung
Dieses Training stellt die Erforschung der Ich-Identifikation in den Mittelpunkt und ist zum größten Teil in der daoistischen Lehre und in den antiken chinesischen Wissenschaften verwurzelt. Im fortschreitenden Training gibt es auch einige tibetische Einflüsse.

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