Das Erwachen des Herzens

Sonnenlicht fällt durch die bodentiefen Fenster und flutet den großen Meditationssaal. Es ist ein warmer Frühjahrstag. Ich bin seit einigen Monaten in Berlin, fühle mich noch immer neu hier und genieße den Freiraum. Eine Trennung von meiner langjährigen Freundin, ein Studium und eine andere Stadt liegen hinter mir. Ich komme gerne hierher ins buddhistische Zentrum. Die Menschen sind freundlich und still. Das gefällt mir.

Wir sitzen auf unseren Kissen und der Lehrer stellt uns eine Meditationspraxis vor. Er nennt sie Tonglen. Der Lehrer lädt uns ein, dass wir uns jemanden ins Bewusstsein rufen, der Unterstützung brauchen könnte oder von dem wir wissen, dass dieser Mensch leidet. Ich denke an meine Mutter. Sie hat starkes Rheuma und Schmerzen. Sie ist wirklich ein zäher Knochen und wenn man ihr Schmerzen anmerkt, dann heißt das schon etwas.

Wir sitzen einen Moment in Stille. Weite blitzt auf. Klares Sehen. Dann erscheint das Bild der Mutter. Wir können uns vorstellen, das Leid dieses Menschen als schwarzen Rauch direkt in unser Herz einzuatmen, schlägt der Lehrer vor. Das tue ich. Und anstatt dass dieser Rauch mein Herz verdunkeln würde, strahlt es heller. Mir erscheint es ganz natürlich jetzt das Licht und die Weite als heilsame Erfrischung mit dem Ausatmen meiner Mutter zu senden.

Heute wird hier im Zentrum das Vesakh-Fest gefeiert. Es ist eine Feier für die Geburt, die Erleuchtung und den Tod des Buddhas und erinnert daran, dass jeder Befreiung erlangen kann. Seit meiner Kindheit fühle ich mich frei, wenn ich teilen und für andere da sein kann. Mit der Tonglen-Meditation wird mir das erste Mal bewusst, dass das Geheimnis des Lebens das Geben ist. Das erwachte Herz ist ein sich verschenkendes Herz. Dieses Geben kommt aus dem natürlichen Überschuss und der Weisheit, dass es da keinen Mangel gibt. Das Tonglen berührt mich, spiegelt meine essenzielle Natur. Von diesem Tag an lese ich unermüdlich über Geistestraining (Lojong), aus dem das Tonglen stammt, Bodhisattvas und den Mahayana-Pfad, den großen Weg. Ich schaue mich um, treffe Lehrer und Meisterinnen und sauge alles auf, was ich über Tonglen lernen kann.

The Point of No Return

Es vergehen einige Jahre, bis am Abend des 19. Dezember 2016 ein Typ mit einem Sattelschlepper in den Weihnachtsmarkt auf dem Breitscheidplatz rast. Es gibt mehrere Tote. Das ist der Ort, an dem Lei nach ihren Chinesischunterricht mit ihren Schülern gerne Glühwein trinken geht. Wir waren selbst noch vor einigen Tagen gemeinsam dort.

Ich sitze zu Hause auf dem Sofa. Lei geht nicht ans Handy. Mir wird schlagartig klar, dass nur eine einzige Sache von Bedeutung ist: Befreiung zum Wohle aller fühlenden Wesen zu verwirklichen und alles in den Dienst dieser Aufgabe zu stellen. Nichts anderes ist wirklich wichtig und bleibt auch nach diesem Tag sekundär.

Ich sitze auf meinem Sofa und praktiziere Tonglen für alle, die von diesem Ereignis betroffen sein mögen. Ich atme für all die Menschen, die Familien, für mich selbst, weil Lei noch immer nicht zurückgerufen hat und für den Fahrer. Das Tonglen schließt alles und jeden ein; auch die Angst, die Ohnmacht, die Trauer und die Wut. Es schließt alles ein, was jetzt und zukünftig in Erscheinung treten mag.

Endlich klingelt das Telefon. Lei geht es gut. Auch ihren Schülern geht es gut. Ihnen ist nichts passiert. Ich bin heilfroh und übe weiter, bis sie nach Hause kommt.

Drei Geistesgifte

Hass, Begierde und Ignoranz halten das Rad der ständigen Wiederholungen am Laufen.
Tuschemalerei von Lei Zhang

Die Zeit rennt. Die Kostbarkeit des Lebens ermöglicht uns für einen kurzen Wimpernschlag einen Beitrag zu leisten in den sich ständig wiederholenden Mustern aus Angst und Begierde. Im innersten dieses ununterbrochenen Kreisens sind die Geistesgifte Hass, Begierde und Ignoranz der Motor. Wir sind blind, weil wir uns einerseits für getrennt halten und glauben, wir seien dieses und jenes und irgendetwas anderes seien wir eben nicht. Andererseits geben wir dem Suchtpotenzial der Kleshas immer wieder nach. Die Kleshas sind erst subtile energetische Bewegungen, die dann mit Identifikationsmustern, Geschichten und Interpretationen immer mehr Fahrt aufnehmen und unsere grundlegende Verwirrung getrennt zu sein noch verstärken.

Du bist die Lösung

Es ist egal, welche Begrifflichkeiten Du verwendest, was Deine Hauptpraxis ist oder ob Du Dich mit fernöstlichen Weisheitslehren beschäftigst. Dein Herz weiß, dass jede Trennung, die Du in Dir aufrecht erhalten willst, eine Ablenkung ist. Wann immer wir glauben, es seien die Anderen oder wann immer wir glauben, es ginge nur um unsere Ängste und Wünsche, sind wir genau in diesem sich immer wiederholenden Spiel gefangen. Wann immer wir über diese emotionalen Süchte hinausfühlen und aufhören innerlich die negativen Energien zu rechtfertigen, zu erklären und zu beweisen, steigen wir ein wenig aus diesem Spiel aus.

Wenn wir andere unterstützen, klarer zu sehen und dies auf der Grundlage von Mitgefühl und Furchtlosigkeit geschieht, steigen wir ein weniger weiter aus, aus der Matrix, aus Samsara. Wahres Mitgefühl ist immer Furchtlosigkeit, weil wir all den ekligen Emotionen, den Schatten und der Dunkelheit in Freundschaft begegnen. Dies beginnt immer bei uns selbst.

Ein guter Guide muss sich in der Hölle auskennen und dies kann er nur, wenn er sie in sich selbst erforscht. Wir können mit anderen nur so weit gehen, wie wir selbst gegangen sind. Daher ist es unsere Aufgabe, allem in uns in Freundschaft zu begegnen und gleichzeitig müde zu werden, dieses Spiel der emotionalen Süchte und Identifikationen immer weiter mit zu spielen. Dies bedeute vor allem, dass Du Angst als Wegweiser nutzt. Wo immer Du Dich fürchtest, frage Dich, wovon Dich diese Angst abhält und dann geh genau dort hin. Es gibt nur einen Weg zur Furchtlosigkeit: Mitten durch die Angst. Es geht nicht daran vorbei, darüber hinweg oder darunter durch.

Das Spiel der Trennung

Das aktuelle Weltgeschehen macht es uns besonders deutlich, dass wir dem Spiel der Trennung, welches immer die Angst begünstigt, verfallen sind. Es gibt uns und die anderen, die Guten und die Bösen. Diese Muster sind uralt und langweilig, wenn Du sie nur einmal durchschaust. Wenn ich glaube getrennt zu sein, bin ich ein Staubkorn in der Unendlichkeit und muss mich schützen. Dies geht am besten, wenn ich alle, die gefährlich sind, zerstöre oder zumindest ausgrenze. Die Lösung liegt im Inneren. Die Welt ist ein Spiegel unserer emotionalen und mentalen Muster. Wir sind eine kindliche Gesellschaft, die nicht über Hass, Begierde und Ignoranz hinausfühlen will, weil wir uns selbst nicht mit Mitgefühl begegnen. Wenn es sich scheiße anfühlt, dann müssen die Anderen, die Umstände, die Gesellschaft oder das Wetter schuld sein. Wir wollen das nicht fühlen. Wir wollen nicht unserer eigenen unmittelbaren Wahrheit auf den Grund gehen, weil wir sonst an die Ort gehen müssten, die wir fürchten. Wir sind süchtig danach, uns kontrollieren zu lassen von unseren Emotionen, Identifikationen und irgendwelchen Autoritäten oder sogenannten Experten und schwadronieren über Freiheit und Normalität. Normalität? Schauen wir in die Menschheitsgeschichte und denken noch mal kurz über Freiheit und Normalität nach. Ein Bewusstsein, dass auf Hass, Begierde und Ignoranz basiert, bringt genau das hervor, was wir jetzt gerade erleben. Ein Schaf kann nur ein Schaf und eine Tigerin kann nur einen Tiger gebären. Meine Lehrerin hat immer zu mir gesagt: „Niels, Du musst die Bücher lesen.“ Gemeint waren die Bücher im Inneren. Im tibetischen Bewusstseinstraining gilt ein wahrer spiritueller Freund als jemand, der uns all unsere Knöpfe drückt. Shabo Gangpa Pema Tsultrim soll allen Schülern, die zu ihm kamen, gesagt haben:

„Ich werde ausschließlich deine verborgenen Fehler aufdecken. Wenn du das ertragen kannst, ohne wütend zu werden dann bleib. Wenn Du das nicht kannst, dann geh lieber.“ *

* Zitat aus: Chökyi Dragpa „Die Einheit von Weisheit und Mitgefühl. Erläuterungen zu den 37 Übungen eines Bodhisattva“ Arbor Verlag 2006, S. 138

Grüne Tara - Bodhisattva des Mitgefühls & der Furchtlosigkeit

Ihr Mantra:
Om tare tuttare ture soha

Tuschemalerei von Lei Zhang

Jetzt ist unsere Zeit

In diesem Sinne ist die aktuelle Situation für die Menschheitsfamilie ein wahrer spiritueller Freund, wenn wir bereit sind, da hinzuschauen, wo wir sonst wegschauen und in Aktionismus verfallen. Die Lösung liegt im Inneren. Tonglen transzendiert die Illusion der Trennung und hilft uns, Andere als Schlüssel zum Glück zu begreifen, weil wir Mitgefühl und Furchtlosigkeit kultivieren, anstatt unser Herz zu verschließen. Im tibetischen Geistestraining (Lojong) ist die Essenz des großen Weges in 59. Leitsätzen enthalten und einer diese Leitsätze fordert uns auf, mit allem was Schwierigkeiten hervorruft, zuerst zu üben. Die Kleinigkeiten erledigen sich dann schon von selbst. Was glaubst Du ist hier gerade wirklich wichtig? Wo liegen die größten Schwierigkeiten? Haben wir die Kompetenz fühlend präsent zu bleiben oder wiederholen wir aus den beständig gleichen Emotionen die beständig gleichen Muster?

Das durch Tonglen entwickelte Mitgefühl und die damit einhergehende Furchtlosigkeit sind eine gute Medizin, weil sie für uns selbst und für andere einen Beitrag leisten, um über die Begrenzungen und Süchte hinauszugehen. Erst wenn wir etwas wirklich gefühlt haben, können wir auch neue kreative Potenziale abrufen und dann auch neu handeln.

Wollen wir wirklich darauf hoffen, dass irgendwer, ob wir sie nun für kompetent halten oder nicht, das für uns in unserem besten Sinne regelt? Wollen wir selbst Teil der Lösung sein? Ein weiterer Leitsatz im Lojong lautet: „Gib alle Hoffnung auf zukünftige Resultate auf.“ Hoffnung ist der Klebstoff der Matrix.

Der Buddha hat sich nicht mit Hoffnung unter den Bodhi-Baum gesetzt, sondern mit Gewissheit. Gewissheit scheppert in der Matrix. Mit dem Geistestraining und dem Tonglen haben wir Gewissheit. Wenn Du auf die Welt schaust, hast Du Gewissheit. Es zählt jetzt eine einzige Sache: Befreiung zum Wohle aller fühlenden Wesen zu verwirklichen und alles in den Dienst dieser Aufgabe zu stellen. Alles andere ist sekundär.

Wenn Du mit mir tiefer gehen willst

Wenn Du Dich angesprochen fühlst und den Mut hast, die Matrix zu erforschen und Deinen Herz-Geist in die Welt zu tragen, um die beste Medizin für unsere Mitmenschen und Mutter Erde zu sein, freue ich mich, mit Dir bei einem unserer Trainings gemeinsam tiefer zu gehen.

Tonglen-Woche vom 13.12.21 – 17.12.21
An fünf aufeinander folgenden Tagen praktizieren wir gemeinsam Tonglen und stärken unsere Kapazitäten von Mitgefühl und Furchtlosigkeit sowie unser Verständnis von Einheit.

https://shendao-zentrum.de/tonglen-woche-das-furchtlose-herz/

Jahreskurs: Tibetisches Geistestraining und Tonglen
Wir erwecken unser furchtloses Herz und gehen Stück für Stück tiefer, um all die selbsteinschränkenden Neigungen und Identifikationsmuster zu durchschauen und somit unser höchstes Potenziale zu leben.

https://shendao-zentrum.de/tibetisches-geistestraining-und-tonglen-jahreskurs/

Furchtlos zurück zur Quelle
In meinem neuen Buch findest Du die daoistische Perspektive und einen gangbaren Weg zu Furchtlosigkeit.

https://shendao-zentrum.de/furchtlos-zurueck-zur-quelle/